Prolog  -  Die Wahl der Runen

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Acht Frauen standen in einem Halbkreis im kniehohen, unberührten Schnee an den Ufern eines Bergsees, während der Wind an ihren Kleidern zerrte. Alle waren sie bewegungslos, wie ewige Statuen, die weder den Wind noch die Kälte spürten, die Kraft der Elemente, die über sie hinwegfegte. Eisblau leuchtete der Bergsee hinter ihnen, der Wind heulte, wenn er durch die Spalten in den Felswänden pfiff. Sie alle warteten auf den Beginn. Das Zeichen.

Keine von ihnen glich der anderen, doch alle trugen sie dunkle Kleider, schwarz und braun und dunkles blau. Alle waren sie viel zu schlecht gekleidet für dieses Wetter. Durch einen rissigen Strumpf blitzte ein helles Knie. Ein Cape wirbelte auf, nur gehalten von einer dünnen silbernen Spange. Ein gestreifter Schal wand sich um einen Hals, als wolle er die Besitzerin erdrosseln.

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Über das Eis des Bergsees wanderten die drei Gestalten den Wartenden entgegen. Noch während sie über das Eis traten, begann der Wind abzuflauen. Ein letztes Maul heulte es in der Felsspalte. Ein letztes Mal flatterte Stoff auf. Zurück blieb nichts als die Stille der eisigen Natur. Die drei Gestalten traten über die Ufer des Sees und hielten vor den Frauen inne. Die vorderste Gestalt schlug eine Kapuze zurück und entblößte das Gesicht einer älteren Frau, die ihr Haar in eine extrem unordentliche Frisur aus Klammern und Spangen frisiert hatte, die sie wie ein toupiertes Vogelnest wirken ließen. Strenge Augen musterten die Runde.

„Willkommen, Junghexen“, begrüßte sie die Versammelten und endlich kam Leben in die Wartenden. Sie alle lösten sich aus ihrer starren Haltung und verneigten sich leicht mit dem Kopf.

„Willkommen“, wiederholte die Frau. „Zu unserer ersten Hexenprüfung in diesem Jahr hier auf dem Blocksberg.“

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Es hatte Gerüchte gegeben, welche Prüfung dieses Jahr abgelegt werden musste. Jedes Jahr war es etwas Anderes, so dass niemand sich direkt auf die Testaufgaben vorbereiten konnte. Hexenwissen war breit gefächert und musste in jeder Lebenslage dienlich sein. Natürlich gab es ein paar Basics, die jeder beherrschen musste: Elemente, Geisterbeschwörungen, Pfadmagie, Bannungsrituale. Dennoch konnte man auch richtig Pech haben. In einem Jahr hatte sich die Prüfung nur um Verwandlungen gedreht. Und ein anderes Mal war ein Duell gefordert worden. Dennoch hatte es Gemunkel gegeben, dass es dieses Jahr wieder elementarer und nicht so experimentell wie in den letzten Jahren werden würde. Und nicht nur das. Großhexe Calluna Lani sollte erscheinen, um den europäischen Prüfungen beizuwohnen. Es hieß, dass sie die neue Vorsitzende des Großen Rates werden sollte und damit die höchste Hexe aller Zirkel. Es verschärfte den Druck auf die Prüflinge.

Sie alle waren gestern angereist aus den verschiedensten Orten Europas. Ein verträumtes Mädchen aus der Slowakei war dabei, das am Abend summend ihre Kristalle auf dem Fensterbrett auslegte, um sie im Mondlicht aufzuladen. Eine andere junge Frau war aus Russland mit einem dicken braunen Zopf angereist, der es als einzige gelungen war heute zu frühstücken. Eine Hexe aus dem Obidiere-Clan war dabei, die mit Büchern voller Einmerker auftauchte und noch am Abend mit hochkonzentrierter Miene Hexenformeln wiederholte. Ein dürres Mädchen in rissigen Leggings und Lederjacke, die ein Amulett an einer Kette drehte. Insgesamt waren es acht Frauen, die meisten um die zwanzig, gesandt von ihren jeweiligen Schulen und Zirkeln, um die erste große Hexenprüfung abzulegen. Dass keine Männer dabei waren, wunderte niemanden. Männer traten nur selten zur Hexenprüfung an und es war schon darüber diskutiert worden, ob man die Anforderungen im Zuge der Integration für die Hexer heruntersetzen sollten.

Die Mädchen hatten nur wenig miteinander geredet. Es war besser so. Wer wusste schon, ob die Prüfung am nächsten Tag sie nicht gegeneinander setzen sollte. Jetzt standen sie alle mit einem halben Meter Abstand voneinander im Schnee und erwarteten die Prüfung. Wenn man genau hinsah, so entdeckte man die eine oder andere, die auf die beiden Prüfhexen im Schatten blickte, beide ihre Gesichter unter Kapuzen verborgen. Die Frau links, die sich im Hintergrund hielt, dies musste die große Calluna Lani sein, die wilde Hexe aus der Kälte, die schon so viele großartige Hexenwerke vollbracht hatte. Viel war nicht von ihr zu sehen, denn die Kapuze ließ ihre Miene in den Schatten. Die oberste Prüferin mit den wilden Haaren, Großhexe Vylla, langte unter ihre Kleider und zog einen Beutel hervor. Es war so weit. Die Zuteilung würde stattfinden. Die Großhexe reichte den Beutel an die erste junge Frau ganz außen und mit geschlossenen Augen griff sie in den Beutel. Als sie ihre Hand zurückzog, lag ein Stein in ihrer Hand, eine rote Rune darauf. Erleichtert atmete sie aus.

„Ruadh“, sagte Vylla anerkennend. „Nimm deinen Platz ein, Thalia.“

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Je dunkler die Farbe, desto besser die Position, desto größer der Vorteil. Rot war eine gute Farbe. Blau ebenfalls. Gelb und Grün standen weiter unten in der Reihe. Schwarz war die höchste Rune. Weiß die Schlimmste. Es hieß, die weiße Rune sei verflucht, denn die meisten Hexen, welche die weiße Rune aus dem Beutel griffen, gelang nicht einmal die erste Aufgabe. Wer die weiße Rune zog, war verdammt. Und bisher konnte man an einer Hand abzählen, wie viele Junghexen mit der weißen Rune die Prüfung bestanden hatten. Es kam vor. Angeblich.

Zwanzig Steine befanden sich in dem Beutel. Acht Hexen waren zur Prüfung erschienen. Mit etwas Glück würde die weiße Rune an der Gruppe vorbeiwandern. Das verträumte Mädchen griff in den Beutel und erhielt die nachtblaue Rune.

„Nila“, bestätigte die Großhexe. „Eine gute Position, Irenka.“

Die Russin zog die erste helle Rune. wiesengrün. Dann ein neidisches Aufatmen, als die Hexe aus dem Obidiere-Clan die schwarze Rune aus dem Beutel zog.

„Kala“, wies die Großhexe ihr die Position zu. „Eine glückliche Wahl, Élodie.“

Hände griffen zu und Steine folgten. Die letzte in der Reihe war die junge Frau in der Lederjacke und den rissigen Leggings. dreizehn Steine. Acht Prozent einer Chance auf völliges Unglück. Als sie ihre Faust öffnete, reckten alle neugierig den Kopf. Hell wie der Winterschnee strahlte die weiße Rune aus ihren fingerlosen Handschuhen. Selbst die Großhexe seufzte leise.

„Wyn“, bestätigte sie. „So sei es also. Die Steine haben gewählt. Die weiße Rune für dich, Serafina.“