Aldcrest-Adventskalender
2022
4. Dezember
Abschied vom Hexenhaus
mit Ivy
Das Haus am Rande von Aldcrest war alt und doch beständig. Risse zogen sich bereits durch sein Mauerwerk, welches nur alle paar Jahrzehnte einmal einen neuen Anstrich erhielt, allein die letzten Jahre von Farbe zusammen gehalten wurde. Das kleine Häuschen, gedrungen wirkend unter einem dicken grau-blauen Dach erstrahlte in einem ganz eigenen Glanz. Die helle, gelbe Farbe verblasste bereits und wurde überwuchert von Efeuranken, die wild aus dem Boden sprossen. Wild wie das Unkraut, das den ganzen Garten beseelte, abwechselnd seinen Platz mit Kräutern teilte, die ihren Nutzen fanden. Bienen schwirrten in der Luft und auch Schmetterlinge fanden sich auf den unzählig wachsenden Blüten wieder. Die Luft summte und brummte, wurde allein vom Quietschen des Gartentors unterbrochen, welches schon lange einmal hätte gewechselt werden müssen. Der Kiesweg, der zur schmalen, dunklen Eingangstür führte, wies mehr Grün auf als das einst so helle Grau des Kies. Hohe Hecken umschlossen das Häuschen, boten Schutz vor dem Blick Neugieriger. Auch, wenn es niemand wagte, sich dem Haus ohne eindeutige Erlaubnis zu nähern. Die hellblauen Fenster umrahmten die Dunkelheit, die von innen drang. Licht kam kaum eines in das Innere des Hauses. Doch war dies auch nicht nötig.
Es herrschte Leere, Stille und eine beinahe fühlbare Spannung in den Räumen des gedrungenen Gebäudes. Gepackte Kisten stapelten sich in dem Zimmer, das einst das Esszimmer gewesen war. Staub wirbelte durch die Luft, der Geruch von Kaffee und Whiskey lag in der Luft. Von oben erklang Knarren. Schritte erklangen. Jemand fluchte. Die Stille wurde unterbrochen.
"Ey, wenn die die Kisten verschludern, bringe ich die um.", knurrte Wyn, knallte ihre Kaffeetasse auf den Küchentresen, der ebenso leer war wie das restliche Haus. Sie war schlecht gelaunt, schlechter gelaunt als sonst. Ein Grund, warum Ben in diesem Augenblick in seinem ehemaligen Zimmer blieb, so tat, als müsse er noch ein paar Sachen sortieren. Natürlich war er längst fertig. Er und Isa. Fertig mit Packen. Doch nicht mit Aldcrest. Sie waren die letzten. Alle anderen waren fort. In die Sommerferien. Riley war noch etwas geblieben und auch John hatte Isa für zwei Wochen noch besucht, ihr beim Packen geholfen. Wyn hatte beide leben lassen. Ausnahmsweise. Dass sie John nicht mochte, das ließ sie jeden spüren. Doch früher oder später würde es sich legen. Wenn seine Schwester ihrer Mutter in etwas ähnelte, dann war es die sture Art. Auf eine andere Weise, doch sie war da.
Ben seufzte, sah hinaus und erblickte Isa auf der Bank hinter dem Haus. Eine Bank, auf der sie des öfteren gesessen hatten. Lange, in Schweigen gehüllt. Stille Dialoge, über alles, was geschehen war, über alles, was nun geschehen würde. Sie mussten nicht laut sprechen. Es reichte ein Blick, es reichte ein Gedanke. Sie verstanden. Das war schon immer so gewesen. Isa war erwachsener geworden, nicht nur körperlich. Und auch Ben war gewachsen. Und würde auch weiterhin wachsen. Er lächelte, erhob sich und hörte, wie seine Mutter einen erneuten Tobsuchtsanfall bekam. Ihr tat der Wechsel nicht gut, ganz und gar nicht. Auch, wenn sie es nicht zugab. Genau wie es Ben in der Seele wehtat, diesen Ort, der so lange sein Zuhause gewesen war, zu verlassen. Und auch Isa kämpfte mit sich. Doch keiner sprach darüber. Es hätte nichts geändert. Ben verließ leise sein Zimmer. Der Raum, der nur noch wenige Stunden sein Zimmer sein würde, kehrte hinunter ins Erdgeschoss und verließ das Haus durch die Hintertür, gesellte sich zu Isa, die aufsah. Ohne Worte setzte er sich neben sie, zog die Knie an und beide sahen sie zu dem Ort, der ihr Heim war. Gewesen war.
"Mom schreit schon wieder die Kaffeemaschine an", murmelte Ben, verzog das Gesicht und blickte auf Isas Skizzenbuch, das ihr Haus zeigte. "Ist super geworden."
Isa folgte seinem Blick, nickte obgleich seiner ersten Aussage. Sie war stiller als sonst. Ein Zeichen dafür, dass ihr die Veränderung nicht behagte.
"Hey." Er stieß sie mit einem Lächeln an. "Ist kein Lebewohl, oder?"
"Ich weiß." Der Blick ihrer giftgrünen Augen wanderte über jedes Detail des Hauses, über jeden Riss, jede Holzmaserung, jeden Ziegelstein. Über das zersprungene Fenster in der ersten Etage, hinter dem die Besenkammer lag und die ihre Mutter vor etlichen Wochen versehentlich zerstört hatte. Über das graue Dach, über den kleinen Schornstein, aus dem vorerst kein Rauch mehr steigen würde. "Wie geht es Riley?"
"Sie lässt dich grüßen", gab Ben von sich und fing den Blick seiner Schwester auf, zuckte mit den Schultern. "Sie ... sie kommt klar."
Isa nickte. Und du?, fragte ihr Blick, während Ben das Gesicht verzog. Kommst du klar?
"Wir sehen nach vorn", gab Ben diplomatisch zurück. "Wir alle. Es ist kein Lebewohl", wiederholte er. "Nur ein ... Bis bald, schätze ich."
Isa nickte, klappte das Buch zu, erhob sich. "Sie kommen, um die Kisten zu holen."
Tatsächlich hörte man Stimmen an der Vordertür, allen voran Wyns, die es sich nicht nehmen lassen konnte, die Herren der Spedition anzuschnauzen. Ben seufzte, richtete sich auf und fuhr sich durch das Haar. "Ich kümmere mich drum."
Er gab seiner Schwester einen Kuss auf die Schläfe, verschwand wieder ins Haus. Isa sah ihm nach. Der Wind zog an ihrem schwarzem Haar, bei dem sich bereits braune Ansätze zeigten. Hinter einem Fenster sah sie ein Schemen, dessen Gesicht nur schwer zu erkennen war. Das Haus würde gut behütet werden. Niemand würde sich hier niederlassen. Es gehörte zu ihnen und zwischen den Mauern, die erfüllt waren von der Magie, die hier gewirkt wurden war, waren sie zuhause. Isa tat es sich schwer mit Neuanfängen, mehr noch mit Lebewohls. Doch Ben hatte recht: Dies hier war kein Lebewohl. Und so gestattete sich Isa ein kleines Lächeln, ein kurzes Nicken des Dankes Richtung des Schemens, ehe sie ihrem Bruder folgte.
Kein Lebewohl. Nur ein kleiner Umweg.
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ENCYCLOPEDIA
FLORA ET FAUNA
INSULA SCOPA
(mit Nature)
Auszüge aus Band 1 - Pflanzen und Pilze
Trivialname: Seifenbeere
Wissenschaftlicher Name: Shepherdia saponema
Beschreibung: Der Strauch, welcher eine Höhe von einem bis zwei Metern erreicht, wächst auf skelettreichen Böden lichter Nadelwälder. Die Blütezeit des diözisches Strauches reicht von April bis Juni. Die Fruchtreife dauert bis August. Die rundlichen Früchte können von orange bis rot alle Nuancen aufweisen.
Verwendung: Durch den hohen Saponingehalt können die Beeren auch als natürliche Seife verwendet werden.
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Verwendung: Die während der Blüte gesammelten Blätter werden in der Naturheilkunde als blutstillendes Mittel und zur Stärkung der Verdauung genutzt.
Trivialname: Silberwurzen
Wissenschaftlicher Name: Dryas spec.
Beschreibung: Die Pflanzengattung aus der Familie der Rosengewächse ist in den Tundren verbreitet. Auf der Isle of Scopa kommen 2 Arten vor: eine blassgelb, die andere weißblühend. Die Blütezeit reicht von Mitte Juni bis Anfang August. Die Blüten werden während des kurzen arktischen bzw. Hochgebirgssommers der Sonne nachgeführt. Als Wärmekollektor stellen sie somit einen attraktiven Landeplatz für Insekten dar. Da die Pflanze nur wenige Wochen im Jahr stoffwechselaktiv ist, kann sie ein hohes Alter von bis zu 100 Jahren erreichen.