
Hinab soll es also gehen, in die Keller des Turmes. Was dort unten wohl auf dich lauert? Fern von allem Licht? Was auch immer du unten in den Kellern gehört hast, ist nun verhallt. Doch du bist dir fast sicher, dass du dort ein Geräusch gehört hast. Vielleicht ein… Menschliches? In einer Halterung an der Wand findest du eine halb heruntergebrannte Fackel. Es kostet doch einige Zeit, sie zu entzünden, doch schließlich lässt das Licht gruselige Schatten auf den Wänden tanzen. Weit reicht der Schein nicht. Doch besser als völlig blind deinem Schicksal entgegenzustolpern.
Mit Bedacht setzt du deine Schritte. Die Stufen sind aus Stein, ausgetreten und dadurch rutschig. Doch auch deine Fackel wird nicht ewig halten. Du versuchst so eilig und doch so vorsichtig wie möglich zu gehen und konzentrierst dich auf den Weg vor dir. Die Treppe bohrt sich in die Erde und du drehst dich mit ihr. Stunden kommt es dir vor, steigst du hinab, auch wenn es in Wahrheit wohl doch nur einige Minuten sind. Beinahe hättest du übersehen, dass die Stufen enden. Du bist am Ende angekommen. Vor dir öffnet sich eine runde Tür, die weit offen steht. Die Fackel in der einen, das Schwert in der anderen Hand machst du einen mutigen Schritt nach vorne. Ein Klirren ertönt. Ganz leise nur. Und dann ein Ächzen. Du hast es dir also doch nicht eingebildet! Jemand… oder etwas… ist hier unten.
Du schleichst durch die Tür. Immer bedacht darauf jede Sekunde einem riesigen Drachen zu begegnen. Unsinn, denkst du dir. Wie will er denn die Treppe heruntergekrochen sein? Es sei denn, es ist ein sehr langer und dünner Drache. Ein Lindwurm vielleicht? Nein, die Logik diktiert, dass du hier keinem Drachen begegnen wirst… aber vielleicht dafür einer gefangenen Prinzessin.
Du hebst die Fackel. Metall glänzt im Fackelschein. Ketten hängen von der hohen Decke herab. Große schwere Eisenketten. Du bewegst den Arm. Es ist schwer auszumachen, doch es scheint, als wärst du wirklich in einer Art Kerker gelandet. Du glaubst, Gitterstäbe ausmachen zu können und mehrere großem Käfige, die im ganzen Raum verteilt sind. Die Fackel streift eine Feuerschale. Willst du es wagen? Sollst du Licht riskieren? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, oder? Du setzt die Fackel an die Feuerschale und entzündest sie. Licht flammt auf. Endlich.
Du hast Recht behalten. Dies hier ist der Kerker. Du zählst acht große Käfige, mit dicken langen Eisenstangen. Schweres Gerät hängt von der Decke. Da, plötzlich… eine Bewegung. In einem der Käfige.
Prinzessin Charity, schießt es dir durch den Kopf. Du eilst durch den Raum. Doch die Vorsicht behältst du. Der Raum scheint leer zu sein. Doch jetzt erkennst du, dass auch in einem anderen Käfig Bewegung ist. Und in einem dritten. Du stockst mitten im Raum. Sind hier… mehrere Prinzessin gefangen? Hat der Drache nicht nur ein Mädchen geraubt?
Die Gestalt im Käfig direkt neben dir richtet sich auf. Du erkennst sie. Schon oft hast du ihr Gesicht bei Hofe gesehen. Schon oft an der Seite de Königs. Unter dem schütteren Bart hättest du es beinahe nicht erkannt. Du schnappst nach Luft und weichst zurück.
„Sir Liam“, flüsterst du. „Erster Ritter der königlichen Garde...“
Was hast du nicht schon alles von den Abenteuern von Sir Liam gehört! Von seinem Kampf mit dem Schattenpanther. Von seiner Queste im verwunschenen Wald. Der strahlende Sir Liam. Doch diese Gestalt in dem Käfig teilt sich nicht mehr viel mit Sir Liam. Du erkennt sie nur an der auffälligen Narbe an seiner Wange. Sonst ist von dem Strahlen nicht viel geblieben. Schmutzig ist er und er trägt nur eine ledernen Hose, kein Hemd. Das blonde Haar ist dunkler geworden. Der Blick aus seinen blauen Augen ist hoffnungslos.
„Held von Aldcrest“, sagt er heiser. „So bist du also auch in die Falle getappt.“
„Falle?“, flüsterst du. „Welche Falle? Sir Liam, wer hat euch dies angetan? War es der Drache?“ Aber wie will der Drache die Treppe heruntergekommen sein? Ein Verdacht regt sich in dir. Irgendetwas stimmt hier nicht.
„Du hast nicht viel Zeit“, sagt Sir Liam müde. Seine Hände greifen um die Käfigstäbe. „Bald wird auch dich unser Schicksal ereilen.“
Deine Knöchel treten hervor, als du das Schwert fester greifst. „Nicht, wenn ich es verhindern kann.“
Sir Liam schüttelt den Kopf. „Wir alle konnten das Unaufhaltbare nicht stoppen. Erhebt euch, Brüder. Und teilt unsere traurige Geschichte.“
Ketten klirren. Gestalten in Käfigen wachsen in die Höhe. Hier sind sie als, die verlorenen Ritter. Sie erheben sich, alle nur leicht bekleidet, bärtig und schmutzig, mit Füßen und Händen an die Gitterstäbe gekettet.
„Ich bin Sir Liam“, spricht der geschlagene Ritter. „Ich war der erste. Liebe verband mich mit Prinzessin Charity. Mein Herz schlug in sanften Gefühlen für sie. Wenn meine Gedanken sie streiften, so trat ein Lächeln auf mein Gesicht. So war ich es, der loszog, um sie zu befreien, als der Drache sie raubte. Ich entkam den Räubern am Waldrand und ich löste das Rätsel des Brückentrolls. Ich kam in das Schloss und ich fand die Prinzessin oben im Turm und den Drachen schlafend neben ihr. Ich kam sie zu erlösen mit der wahren Liebe Kuss. Und mein Schicksal endete hier in diesem Keller.“
„Ich bin Sir John, der Bruder der Königin“, spricht ein junger Mann einen Käfig weiter. „Ich ward ausgesandt, die Prinzessin zu retten und auch ich entkam den Räubern und löste das Rätsel des garstigen Trolls. Ich betrat das Schloss und zog in den Kampf gegen den Drachen. Doch mein Fehler war, dass nicht die Liebe mich führte. Mein Herz ist bereits vergeben, auch wenn die Frau, die mein Herz beherrscht, nicht um darum weiß. So waren es Pflicht und Ehre, die mich leiteten, woraus ich kein Geheimnis machte. Und so wurde ich verdammt.“
„Ich bin Sir Angel“, spricht ein Mann hinter dir, dessen langes schwarzes Haar ihm auf den Rücken hängt. „Ich entkam den Räubern und mein Bruder ließ mich die Brücke überqueren. Mein Fehler war, dass ich die ritterlichen Ehren missachtete. Ich hielt nicht vor der Tür. Ich beugte nicht das Knie. Und ich bot nicht den Liebeskuss. Und so endete ich hier.“
„Ich bin Sir Heath“, spricht ein Jüngerer weiter hinten. „Ich war der Letzte und kam vor wenigen Wochen erst hier an. Ich entkam den Räubern und ich überquerte die Brücke des netten Herrn mit Haaren eines Prinzen würdig und Augen wie ein stürmischer Ozean. Ich kam an den Turm, doch mein Herz blieb an der Brücke zurück, auch wenn es unbeachtet blieb. So kam ich in die Kammer der Prinzessin und sie griff meinen Arm. Und es war nicht ihr eigener Name, den sie in meinen Gedanken sah. Und so teilte ich das Schicksal der anderen.“
„Aber wer...“, beginnst du. „Wer hat euch hier eingesperrt? Und wo ist die Prinzessin?“
„Verstehst du es noch immer nicht?“, fragt Sir Angel, die Brauen böse zusammengezogen. „Es ist alles Trug. Niemand hat die Prinzessin entführt als sie selbst. Sie ist es, die hier fernab von den Eltern ihr eigenes Regiment führt und uns alle zu ihren Freuden hier festhält.“
„Sie ist verrückt“, stimmt Sir Liam ernst zu. „Held von Aldcrest, die Prinzessin ist wahnsinnig. Sie wird dich oben im Turm erwarten und dort dein Schicksal besiegeln.“
„Sie hat Hexenkräfte“, sagt Sir John. „Berührt sie dich, so sieht sie in dein Innerstes. Sie wird den Kuss der wahren Liebe von dir fordern und mitten in dein Herz Einblick erhalten. Gibst du ihr den Kuss, erlangt sie Macht über dich und sie nimmt dir deine Kraft und sperrt dich ein. Verweigerst du ihn, so wird ihr schrecklicher Drache dich angreifen und dich überwältigen. So oder so endest du mit uns in ihren Verliesen.“
„Und hier harren wir aus zu ihrem Vergnügen allein“, flüstert Sir Heath. „Manchmal kommt sie herab und lässt uns tanzen oder ihr in Ketten Gesellschaft leisten. Sie gibt uns keine Kleider. Sie ist wahnsinnig und wir sind ihre Opfer.“
„Es gibt kein Entkommen“, bestätigt Sir Liam. „So fliehe also, so lange du es noch kannst. Trittst du ihr entgegen, wird sie dich vor die unmögliche Wahl stellen. Gib ihr den Kuss und all deine Kraft und Stärke ist ihre. Verweigere ihn und Drachenzähne werden nach dir schnappen. Zwei Brüder fielen dem Biss des Untiers bereits zum Opfer.“
In deinem Kopf dreht sich alles. Die Prinzessin… sie steckt also hinter allem. Sie ist verrückt geworden. Und vor dir steht eine unmögliche Wahl. Denn gegen sie antreten, das musst du. Du bist so weit gekommen, dass du jetzt nicht aufgeben wirst.
„Wo sind die Schlüssel?“, fragst du. „Die Schlüssel zu euren Ketten? Wie kann ich euch befreien?“
„Du kannst es nicht“, erwidert Sir Liam ernst. „Prinzessin Charity trägt sie um den Hals, Tag wie Nacht. Für uns gibt es keine Hoffnung mehr.“
Du straffst dich.
„Nein“, sagst du. „Sprecht nicht derart, Sir Liam. Ich bin gekommen, die Prinzessin zu befreien, Doch es scheint, als müsste ich sie vor sich selbst erretten. Mein Auftrag steht. Und zu viel habe ich verloren. Ich werde ihr entgegen treten. Und ich werde euch, Ritter des Königs, aus eurer misslichen Lage befreien.“
„Du kannst uns nicht retten“, beharrt Liam. „Höre, Held. Ich gab ihr den Kuss in bester Absicht und sie stahl meine Kraft. Sir John verweigerte ihr den Kuss und der Drache griff ihn an. Sir Angel verweigerte den Kuss und auch er fiel ihrem Drachen zum Opfer. Sie stahl seine Kraft und sandte ihn kraftlos herab. Und Sir Heath gab ihr, was sie forderte und sie erkannte den Trug und ihr Drache griff an und sandte ihn hinab. Es gibt kein Entkommen vor ihr und ihrem Untier.“
„Es gibt immer einen Weg“, sagst du mit fester Stimme. „Es wird Zeit, dass die Prinzessin lernt, dass diese Art der Liebe nicht das Land beherrschen kann. Vertraut mit, ihr Ritter.“
Bedauernde Blicke folgen dir, als du den Keller verlässt. Hoffnungslosigkeit fällt wie ein Schatten über dich herab und legt sich einem Umhang gleich um deine Schultern, als du dich zur Tür wendest und die Stufen erklimmst. Du schüttelst sie ab. Wie besiegt man eine unbesiegbare Prinzessin? Wie entkommt man der wahren Liebe Kuss? Viel Zeit bleibt dir nicht, um es herauszufinden.
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Stumm steigt ihr den Turm hinauf. Du kommst zurück zum Weg nach draußen, doch wendest du dich weiter, die Stufen hinauf. Kurz überlegst du, die Prinzessin und all die Ritter dort unten zu lassen und zu fliehen. Doch deine Ehre verbietet es dir. Du straffst dich und erklimmst die Stufen. Der Prinzessin und ihrem Drachen entgegen.
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Endlose, endlose Stufen. Ein ewiger Kreisel, der sich in den Himmel schraubt. Nimmt es denn kein Ende? Du hast das Gefühl, dass du Stunden, Tage, Jahre den Aufstieg begehst. Ob die Nacht schon verstrichen ist? Ob dich Morgenlicht erwartet, wenn du endlich den höchsten Punkt des Turmes erreicht. Bisher blitzen dir nur die Sterne entgegen, wenn du aus einem der Fenster blickst, die an dir vorbeiziehen. All den Weg bist du gekommen, um eine Prinzessin zu retten. Nun bist du dabei, eine Prinzessin zu bekämpfen. Ja, sie vielleicht sogar zu töten. Wie sehr sich das Schicksal doch irren kann.
Endlich öffnet sich vor dir eine Kammer. Die Treppen schrauben sich noch weiter in die Höhe, doch dort wird dich nur das Dach des Turmes erwarten. Das Schwert wiegt schwer in deiner Hand. Doch du straffst dich. Die finale Prüfung wartet auf dich.
Was du für eine Kammer gehalten hast, ist tatsächlich eine große Halle. Ein Bett steht hier mit flatternden Vorhängen in einem Luftzug. Ein Teppich, an dem die Motten fressen. Ein großer Spiegel. Du lässt die Fackel sinken, denn du benötigst sie nicht mehr. Feuerschalen brennen nahe der Wände und hüllen alles in ein unheimliches und magisches Licht. Du richtest dein Schwert in den Raum. Irgendwo von links ertönt ein urzeitliches Knurren. Der Drache. Es muss der Drache sein. Du straffst dich. Klar wie eine Lerche hallt eine Stimme durch den Raum. Gesang so betörend wie eine Sommerliebe schwingt sich in die Luft. Du verharrst und lauschst.
„Rosenrot, weiß wie Schnee
Königin von Wald und Klee
Mein Herz hab' ich dir anvertraut
Rosenrot, so werde meine Braut.“
Du verharrst. Lauschst dem Gesang. Niemals im Leben hast du etwas Schöneres gehört. Und dein Herz gerät ins Wanken. Kann es wirklich sein? Kann die Besitzerin jener Stimme wirklich die schrecklichen Taten begangen haben, die im Keller versteckt sind? Du machst einen Schritt nach vorne und jetzt siehst du sie auch. Dort sitzt sie am Fenster vor der Silhouette des silbernen Mondes. Eine junge Frau von atemberaubender Schönheit. Lange blonde Locken fallen ihr über die nackten Schultern. Ein weißes Kleid fällt an ihr herab. Sie hat die Arme um die Knie geschlungen und blickt mit traurigem Blick nach draußen in die Landschaft.
„Wo das Lied des Schwarzdorn singt
Und der Raben Weise klingt
Wasser durch die Moore geh'n
Zwei Schwestern sich im Tanze dreh'n.“
Du verharrst. All deine Pläne sind vergessen. Wie könntest du ein solches Wesen angreifen? Das Schwert in deiner Hand senkt sich. Die Schwertspitze klirrt leise, als sie den Boden berührt. Die Prinzessin am Fenster bricht mitten im Gesang ab. Sie dreht sich herum und sieht dich mit großen grünen Augen voller Unschuld an.
„Wer seid ihr?“, flüstert sie. „Seid ihr ein Ritter, gekommen mich zu retten?“
Du schweigst. Doch dann nickst du langsam.
„Ja“, gibst du ihr schließlich heiser zur Antwort. „Ja, das bin ich. Prinzessin, ich bin hier um euch nach Hause zu bringen.“
Sie rutscht vom Fenstersims herunter. Barfuß tritt sie auf den Stein. Das Kleid fällt an ihr herab wie Wasser.
„Ich habe so lange gewartet“, sagt sie leise. „So lange...“ Ein heller Arm streckt sich aus. Du kommst näher. Noch immer klammert sich deine Hand um das Schwert.
Kannst du sie wirklich töten? Was, wenn du dich irrst? Wenn die Ritter sich irren? Und was, wenn es deine letzte Chance ist?
„Wo ist der Drache, Prinzessin?“, fragst du. Sie dreht den Kopf leicht nach links.
„Er schläft dort hinter dem Bett.“
Jetzt kannst du im Dämmerlicht tatsächlich eine Gestalt dort ausmachen. Wenn du die Augen zusammenkneifst, kannst du ihn sehen: Ein großer Echsenkörper voller Schuppen, halb verborgen von den Schatten.
„Prinzessin...“, sagst du und blickst auf ihre Hand. Was hat Liam gesagt? Berührst du sie, so sieht sie in dein Herz.
„Nimm meine Hand“, flüstert die Prinzessin. „Und führe mich aus diesem schrecklichen Turm.“
Du verharrst. „Prinzessin“, beginnst du erneut. „Prinzessin… meine Füße führten mich in deine Keller. Und ich sah, was dort verborgen war.“
Die grünen Augen weiten sich. Tränen laufen über ihre Wange.
„Es ist der Fluch“, wispert sie. „Es ist ein schrecklicher Fluch, der über mich gesprochen wurde. Nur der wahren Liebe Kuss kann mich erlösen. Doch keiner von denen, die kamen, um mich zu retten, war für mich bestimmt. Beende mein Leid und erlöse mich. Küss mich, Held von Aldcrest, und rette uns alle.“
Es ist die Gelegenheit. Deine einzige und letzte Chance. Nimm das Schwert und töte sie. Und beende damit den Spuk.
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Diese Tränen sind echt. Nichts hat größere Macht als der Kuss der wahren Liebe. Wenn wirklich ein Fluch sie an den Turm fesselt, so kannst du sie erlösen. Küss sie und erlöse die Prinzessin. Und wenn dies wirklich die Gestalt der Bosheit ist, so soll es sein.
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Du kannst doch keine Prinzessin töten. Was sie sagt, scheint Hand und Fuß zu haben. Aber den Kuss willst du ihr nicht unbedingt geben. Vielleicht kannst du ihr erklären, dass man ihren Fluch anderweitig brechen kann. Bestimmt hört sie dir zu.
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