
Endlose, endlose Stufen. Ein ewiger Kreisel, der sich in den Himmel schraubt. Nimmt es denn kein Ende? Du hast das Gefühl, dass du Stunden, Tage, Jahre den Aufstieg begehst. Ob die Nacht schon verstrichen ist? Ob dich Morgenlicht erwartet, wenn du endlich den höchsten Punkt des Turmes erreicht. Bisher blitzen dir nur die Sterne entgegen, wenn du aus einem der Fenster blickst, die an dir vorbeiziehen. Ob die Prinzessin jede Nacht aus dem Fenster sieht, auf die gleichen Sterne, ein trauriges Seufzen auf den Lippen?
Endlich öffnet sich vor dir eine Kammer. Die Treppen schrauben sich noch weiter in die Höhe, doch dort wird dich nur das Dach des Turmes erwarten. Das Schwert wiegt schwer in deiner Hand. Doch du straffst dich. Die finale Prüfung wartet auf dich.
Was du für eine Kammer gehalten hast, ist tatsächlich eine große Halle. Ein Bett steht hier mit flatternden Vorhängen in einem Luftzug. Ein Teppich, an dem die Motten fressen. Ein großer Spiegel. Du lässt die Fackel sinken, denn du benötigst sie nicht mehr. Feuerschalen brennen nahe der Wände und hüllen alles in ein unheimliches und magisches Licht. Du richtest dein Schwert in den Raum. Irgendwo von links ertönt ein urzeitliches Knurren. Der Drache. Es muss der Drache sein. Du straffst dich. Klart wie eine Lerche hallt eine Stimme durch den Raum. Gesang so betörend wie eine Sommerliebe schwingt sich in die Luft. Du verharrst und lauschst.
„Rosenrot, weiß wie Schnee
Königin von Wald und Klee
Mein Herz hab' ich dir anvertraut
Rosenrot, so werde meine Braut.“
Du verharrst. Lauschst dem Gesang. Niemals im Leben hast du etwas Schöneres gehört. Und dein Herz gerät ins Wanken. Ist dies… Prinzessin Charity? Du machst einen Schritt nach vorne und jetzt siehst du sie auch. Dort sitzt sie am Fenster vor der Silhouette des silbernen Mondes. Eine junge Frau von atemberaubender Schönheit. Lange blonde Locken fallen ihr über die nackten Schultern. Ein weißes Kleid fällt an ihr herab. Sie hat die Arme um die Knie geschlungen und blickt mit traurigem Blick nach draußen in die Landschaft.
„Wo das Lied des Schwarzdorn singt
Und der Raben Weise klingt
Wasser durch die Moore geh'n
Zwei Schwestern sich im Tanze dreh'n.“
Du verharrst. Dein Herz schlägt schneller. Das Schwert in deiner Hand senkt sich. Die Schwertspitze klirrt leise, als sie den Boden berührt. Die Prinzessin am Fenster bricht mitten im Gesang ab. Sie dreht sich herum und sieht dich mit großen grünen Augen voller Unschuld an.
„Wer seid ihr?“, flüstert sie. „Seid ihr ein Ritter, gekommen mich zu retten?“
Du schweigst. Doch dann nickst du langsam.
„Ja“, gibst du ihr schließlich heiser zur Antwort. „Ja, das bin ich. Prinzessin, ich bin hier um euch nach Hause zu bringen.“
So wunderschön ist sie. Sie rutscht vom Fenstersims herunter. Barfuß tritt sie auf den Stein. Das Kleid fällt an ihr herab wie Wasser.
„Ich habe so lange gewartet“, sagt sie leise. „So lange...“ Ein heller Arm streckt sich aus. Du kommst näher. Noch immer klammert sich deine Hand um das Schwert.
„Wo ist der Drache, Prinzessin?“, fragst du. Sie dreht den Kopf leicht nach links.
„Er schläft dort hinter dem Bett.“
Jetzt kannst du im Dämmerlicht tatsächlich eine Gestalt dort ausmachen. Wenn du die Augen zusammenkneifst, kannst du ihn sehen: Ein großer Echsenkörper voller Schuppen, halb verborgen von den Schatten.
„Prinzessin...“, hauchst du und blickst auf ihre Hand. Als wäre sie aus Porzellan gefertigt.
„Nimm meine Hand“, flüstert die Prinzessin. „Und führe mich aus diesem schrecklichen Turm.“
Die grünen Augen blicken dich an. Tränen laufen über ihre Wange.
„Küss mich“, wispert sie. „Zu lange schon verharre ich in diesem schrecklichen Turm. Zu lange schon bindest mich der Fluch an dies Mauern.All die Ritter, die vor dir kamen… welch schreckliches Ende! Nur der wahren Liebe Kuss kann mich erlösen. Küss mich, Held von Aldcrest.“
Der wahren Liebe Kuss also. Das ist die finale Prüfung. Du hast von der Macht dieses Dings gehört. Ein Kuss, der Ketten zersprengen und Welten retten kann. Wirst du dich als würdig erweisen?
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Küss sie. Brich den Fluch.
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Nein, du bist nicht würdig. Oder dein Herz gehört bereits jemand anderem.